Sebastian Christoph Jacob Sprecher


"So wie die Dichtkunst schöpferisch gestaltetes Wort ist, so sind auch die Elemente des Wortes, die Laute, geistigen Ursprungs. Als solche sind sie Zeichen einer dem geistigen immanenten Ordnung, in der auch der Mensch lebendig steht." Fritz Reusch, Der kleine Hey

Sprache und Bewusstsein

Der Weg des Schauspielers von sich selbst zu einem darzustellenden Menschen der nicht er selbst ist, hat seinen Ausgangspunkt zunächst in der in Worten niedergeschriebenen Vorlage, welche jegliche Information desjenigen beinhaltet, der etwas ganz bestimmtes zum Ausdruck bringen will. Das geschriebene Wort muss deshalb in jedem Fall der Ausgangspunkt zur wahrheitsgetreuen Rollenfindung sein. Denn durch die Auswahl eines Werkes besteht die Verpflichtung demselben in seinem Sinn gerecht zu werden. Durch die genaue Analyse der Vorlage wird der Schauspieler über das, was der zu verkörpernde Mensch sagt, sowie über die Art wie dieser sich sprachlich zum Ausdruck bringt, zu dessen Innern geführt und gelangt dadurch zur äußeren Form seiner Körperlichkeit. So weisen Wortwahl, Grammatik, die Ausführlichkeit dessen, was er uns mitteilen will oder muss direkt auf seinen körperlichen Ausdruck hin. Ist der Ausgangspunkt das gesprochene Wort, welches zur körperlichen Gebärdung führt, so bestimmt diese letztlich wiederum jegliche sprachliche Form. Auf diesem Wege findet der Schauspieler zu seinem klanglichen Empfinden und entbindet die Macht seiner Fantasie. Aus ihr gelangt er zum unmittelbaren Ausdruck, findet er zu seiner Verwandlungsfähigkeit, schöpft er natürliche Gestalt und Stärke. Der Weg vom geschriebenen Wort zum gesprochenen Wort beschreibt also, entsprechend der vorhandenen Zeit des zu erarbeitenden Werkes, einen kleineren oder größeren Kreislauf. Deshalb ist die Entwicklung einer geführten stimmlich angemessenen Diktion für den Schauspieler, wenn er den Bogen der Bewusstwerdung dessen was gemeint ist zu seinem schließenden Ende führt, beim Theater wie auch beim Film, immer nur deutlicher Gewinn an Authentizität.

Damit die Darstellung vom unmittelbaren Ausdruck und Drang nach Mitteilung eines eigenen, inneren Gefühlszustandes eines Spielers zur differenzierten Entdeckung des vom Autor ursprünglich gemeinten reifen kann, bedarf die Sprache für den Schauspieler der allergrößten Pflege. Denn sie ist und bleibt für ihn der Schlüssel und das fundamentale Mittel für seinen bewusst geführten natürlichen Ausdruck.

"Das Gehör ist die Tür zur Seele" Johann Gottfried von Herder

Der Beginn des bewussten sprachlichen Ausdrucks ist ein Meilenstein in der Entwicklung des menschlichen Wesens. Ist die Sprache der Tiere noch ausschließlich unmittelbarer Ausdruck ihres Fühlens oder Verlangens, so entwickelt sie sich beim Menschen, gemeinsam mit dem aufrechten Gang, als Mittel, mit welchem er auf dem Weg zur Bewusstwerdung seinem Wunsch nach kultureller Entwicklung immer feineren Ausdruck verleihen kann und damit seinem wahren Selbst immer näher zu kommen vermag. Durch die Möglichkeit geistigen Austausches mit anderen ist die Sprache für den Menschen das wichtigste Mittel zur Bildung seiner Persönlichkeit. Die immer präzisere Formulierung formt ihn. Und so wie in einem einzigen gesamten Leben eines Menschen, vom Beginn bis zum Ende, die Entwicklung der Menschheit seinen Bogen zeichnet, ist auch die gesamte Menschheitsgeschichte ein Bild für den Lebensbogen eines einzelnen Menschen.









Lob der Klassik

Die übermenschliche Charakterstärke bei Aischylos, die Bekenntnis zur Vernunft bei Sophokles, das dramatisch kämpferische bei Euripides, die elementare Urkraft bei Shakespeare, die Allgewalt des Gefühls bei Goethe, der Überschwang des dämonischen Willens bei Schiller, die über alle Schranken hinweg brausende Leidenschaft bei Kleist - werden zur Konzentration geführt durch die Form, durch die läuternde Gesetzlichkeit im Schaffen, ausgehend von den Schöpfern, errungen von den Interpreten, gesendet zu den Empfangenden, ohne die geringste Schwächung des Gefühls oder Ausdrucks. Denn die Form reinigt von allem Zufälligen, löst jede Willkür auf, lässt in ihrer Schlichtheit den Ursprung erkennen, gibt den ganz eigenen künstlerischen Ausdruck der Schöpfer wieder und lässt letztlich die Botschaft zur Führung des eigenen Selbst zur Vernunft und Verantwortung durchscheinen. Durch den Verzicht am Ausdruck des eigenen persönlichen Zustandes zugunsten des vom Autor gemeinten wächst der Schauspieler. Die Werke der Klassik mit ihrer Sprache als Ausdruck leidenschaftlichen Empfindens, in rhythmisch gebundener Versform sowie in künstlerisch gedichteter Prosa, möchte die konzentrierte Disziplinierung der sprachlichen Gestaltung. Diese Strenge erhöht seine darstellerische Überzeugungskraft. Die Werke der Klassik möchten zur Überwindung und Reife beitragen. Sie wollen zur Wahrheit, zum Sinn führen. Die Sprache ist ihr Mittel zur Formung und Entwicklung des Geistes zum Guten.

Der Schauspieler der aus dem Wert der Vernunft in der Klassik schöpft strebt danach, durch die Annäherung an seine Vorlagen, über die läuternde Übung der Annäherung an seine Rollen, dem Menschen näher zu kommen. Dadurch formt, schnitzt er das ungehobelte, noch unbewusste seines unvollendeten Selbst immer deutlicher heraus, entgegen dem Trieb nach Anerkennung durch die originelle Präsentation seines eigenen noch unerreichten Selbst. Der klassische Schauspieler möchte nicht von seinem Publikum Liebe empfangen, sondern möchte durch seine Kraft der Überwindung zur Einfachheit immer mehr im Stande sein seinen Zuhörern und Zuschauern durch die Durchdringung seiner Rollen, mit seinem Einfühlungsvermögen, den Mut zur Liebe ihres eigenen Selbst zu geben. So bildet die Klassik Schauspieler, die ein aufgeschlossenes Stilgefühl und wirkliche Sprachkultur erringen und über bloße natürliche Nachahmungsgabe hinaus zu künstlerischer, nachwirkender Gestaltungskraft finden. Schauspieler, die mit Rhythmik und Klang, mit warmem Empfinden harte Gesetzlichkeit zu formen verstehen, darüber hinaus aber, durch den Zugang zu ihrer Fantasie und ihrem großzügigen Humor, erwachsend aus vertrauensvoller Nachsicht, Vollblutkomödianten sind.
Die strenge Konsequenz in der Gestaltung mit ihren Wurzeln in der Antike erzieht zum Verantwortungsbewusstsein. Dies führt dann auch zu besten Ergebnissen bei den Gegenwartsdramatikern. Die Klassik verleitet also zu keiner Flucht aus der Gegenwart, führt nicht zu unlebendigen Wunschbildern, zu veralteten Idealen, sondern macht zur Erfüllung künftiger Kunstforderungen bereit. Sie ist die Basis künstlerischer Entwicklung für alle Zeiten und Formen, mit all den ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten klangsprachlicher Gestaltung. Denn wirklich authentische Darstellung ist nur möglich durch geführte Alltagssprache. Auch geführte verschliffene Sprache vermittelt eine sinnvolle Botschaft stärker und wirkt dabei glaubhafter als unbewusstes, ungeformtes Sprechen. Stil und Natürlichkeit schließen sich also gegenseitig in der klassischen sowie auch der gegenwärtigen Kunst nicht aus. Kunst ist nicht Natur, aber sie soll als Natur wirken. Erst in der gestalteten Form wird die Schönheit des Natürlichen ganz offenbar. Erst in der Form offenbart sich das Wesentliche.

Die Klassiker schöpfen aus dem antiken Erbe den Grundsatz zur schöpferischen Ordnung. Sie überleben die Jahrhunderte, weil sie dem Glauben, der Liebe, der Hoffnung und dem Streben nach geistiger Verantwortung ihrer Schöpfer entspringen und damit immer eine Botschaft vermitteln, deren Inhalt zeitlos ist. Die Form, der Stil, der Vers, die Prosa, möchten hier wie dort dem Stoff sinnbildliches, gültiges Gepräge geben - mit vollem Einsatz der Persönlichkeit, aber mit selbstbescheidener Unterordnung unter die Gesetze. Auf diese Weise wollen die klassischen Werke nichts von ihrem Publikum, wollen es nicht begeistern, es nicht für sich einnehmen, sondern können geben. Deshalb sind deren Werte auch für den Schauspieler, in seinem Streben nach Wahrhaftigkeit und für die Richtung in die er sich in seiner Persönlichkeit entwickeln will, sowie auch für den Zuschauer vorbildlich. Die Verinnerlichung dessen, was das Wesen des Menschen ausmacht, die Erkenntnis dessen, was die Bewusstwerdung des Ausgleichs zwischen Haben und Sein, die Entwicklung zum Guten vorantreibt, fördert das Studium der Klassik. Ihre Gesetzmäßigkeit gibt ihr vor allem ihren bleibenden Wert.







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